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ABBILD :: REALITÄT!?

Lorenz Estermann Aldo Giannotti G.R.A.M. Markus Guschlbauer Julie Hayward Claudia Larcher Daniel Leidenfrost Michail Michailov Bernd Oppl Judith Pichlmüller Kamen Stoyanov Erwin Wurm


ABBILD :: REALITÄT!?

Lorenz Estermann
Aldo Giannotti
G.R.A.M.
Markus Guschlbauer
Julie Hayward
Claudia Larcher
Daniel Leidenfrost
Michail Michailov
Bernd Oppl
Judith Pichlmüller
Kamen Stoyanov
Erwin Wurm

Ausstellungseröffnung am Dienstag, den 29.11.2016, 19:00-22:00 Uhr
Ausstellungsdauer: 30.11.2016-14.01.2017
Öffnungszeiten: Di-Fr 14-19 Uhr, Sa 11-15 Uhr
projektraum viktor bucher
a-1020 wien
praterstrasse 13/1/2
t/f +43 (0)1 2126930
projektraum@sil.at
www.projektraum.at

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NICHTS ALS DIE WAHRHEIT
Nun ist der Zweifel an dokumentarischen Bildern nichts Neues, sondern er begleitet sie seit ihrer Entstehung. Schon immer wurde ihr Anspruch auf die Darstellung von Wirklichkeit beargwohnt, dekonstruiert oder als überheblich bezeichnet. Unser Verhältnis zu dokumentarischen Behauptungen stellt seit jeher eine Art uneingestan- dener Zwickmuhle dar: Es schwankt zwischen Glauben und Ungläubigkeit, zwischen Vertrauen und Misstrauen, Hoffnung und Enttäuschung. Dies ist auch der Grund, warum die dokumentarische Form seit jeher genuin philosophische Probleme aufwirft. Wie dokumentarische Formen Wirklichkeit abbilden bzw. ob sie dazu überhaupt in der Lage sind, ist unter Theoretikern des Dokumentarischen chronisch umstritten. Mit drastischen Worten hat Brian Winston die Debatten um die Definition dokumentarischer Wahrheit auch als »battlefields of epistemology« bezeichnet. Die Schlachten, die auf diesem Feld ausgetragen werden, verlaufen zwischen relativ festgefahrenen Fronten. Die Hauptfront verläuft zwischen den Vertretern des Realismus und jenen des Konstruktivismus. Während die einen glauben, dass dokumentarische Formen natürliche Fakten abbilden, begreifen die anderen sie als soziale Konstruktionen.

IST DIES WIRKLICH WAHR?

Was aber sagt uns dieses Dilemma? Es sagt uns, dass es nicht darum geht, im traditionellen Streit der theoretischen Lager Partei zu ergreifen, sondern vielmehr darum, die Dringlichkeit des Problems anzuerkennen – zumal in einer Epoche, in der das Schwanken zwischen Glauben und Misstrauen, wie das Eingangsbeispiel zeigt, in die Bilder selbst integriert wird. Die ständige Unsicherheit darüber, ob dokumentarische Wahrheit möglich ist oder ob sie von vornherein verworfen werden muss, der standige Zweifel, ob das, was wir sehen, auch mit der Wirklichkeit übereinstimmt, stellen keinen Mangel dar, der verleugnet werden muss, sondern im Gegenteil das entscheidende Charakteristikum dokumentarischer Formen. Ihr Merkmal ist die oft unterschwellige, aber trotzdem nagende Verunsicherung, die sie erzeugen, und mit ihr die Frage: Ist dies wirklich wahr?

DIE MACHT DES ZWEIFELS
An diesem Punkt stoßen wir jedoch auf ein Paradox: Der Zweifel an ihren Wahrheitsansprüchen macht dokumentarische Bilder nicht schwächer, sondern stärker. Die dokumentarische Artikulation ist heute potenter denn je zuvor. Informationen – ob sie nun wahr sind oder nicht – lösen Kriege, Börsenkräche, Pogrome ebenso wie weltweite Hilfsaktionen aus. Sie sind weltweit und rund um die Uhr verfugbar, sie verwandeln Dauer in real time, Distanz in Intimitat, Ignoranz in trügerisches Bescheidwissen. Sie mobilisieren die Menge, sie verwandeln Menschen in Feinde und Freunde. Im Zeitalter der digitalen Reproduktion wirken dokumentarische Formen nicht nur auf individueller Ebene ungeheuer emotionalisierend – sie stellen auch einen wichtigen Bestandteil zeitgenössischer Ökonomien des Affekts dar. Das Bedürfnis nach objektiver, institutionell garantierter, wenn nicht gar wissenschaftlich inspirierter Seriosität, die die Glaubwürdigkeit dokumentarischer Formen ausmachte, wird sukzessive durch das Begehren nach Intensität ersetzt. In den allgegenwartigen Strömen der Informationsgesellschaften wird das Argument durch die Identifikation verdrängt, durch komprimierte Botschaften und Affekte, die immer stärker in die Ereignisse selbst verstrickt sind.Ausgerechnet das dokumentarische Material, das staubtrocken zu sein scheint, verwandt den notrisch kühlen Verfahren der Jurisprudenz oder der Wissenschaft, erweist sich durch den mittlerweile institutionalisierten Zweifel als Umschlagplatz ebenso intensiver wie widersprüchlicher Emotionen.

Auszug aus: HITO STEYERL „Die Farbe der Wahrheit“. Dokumentarismen im Kunstfeld VERLAG TURIA + KANT WIEN


Kamen Stoyanov „Sign of Exclamation“, 2015. Holz/Farbe. 50 x 55 x 50 cm